Der Zug der Dietzhölzbahn hält auf der Station Steinbrücken. Da grüßt so freundlich ein hoher Berg über einem kleinen Tal, das sich hier im Osten öffnet, zu uns herüber und ladet uns zum Besuche ein. So sei denn heute dem „Schloßberg“, wie die Bevölkerung hier den Berg nennt, unser Besuch gewidmet.
Heiß liegt die Sonnenglut in dem Tälchen, und die aufsteigende Straße nach Roth strahlt die Hitze wieder aus. Ohne Schweißtropfen geht`s da nicht ab. Aber ohne Schweiß kein Preis! Und oben winkt labender Schatten!
Vor Roth zweigt der Weg zum Schlossberg rechts ab und führt uns, damit wir leichter die Höhe gewinnen, erst eine Zeit lang nach Osten. Dann biegt er nach Westen um. Noch wenige Minuten geht es im dunkeln Fichtenwald bergan, dann sind wir am Ziel. Hier oben auf dem Gipfel stand einst eine Burg der Landgrafen von Hessen – der „Hessenwald“. –
In geheimnisvolles Dunkel ist die Geschichte des Schlossberges gehüllt. Der „heilige Berg“ wird er auf der Karte genannt, unser Berg, der seine Nachbarschaft sichtbar überragt, und dessen Spitze ein mächtiger Felsen bildet.
„Heiliger Berg“ – soll das nicht die dunkle Erinnerung daran sein, dass hier einst eine altgermanische Opferstätte war? Später mag dann hier etwa eine kleine Kapelle oder die Einsiedelei eines Klausners gestanden haben. Eine alte Sage, die sich freilich in ähnlicher Form auch für andere Gegenden findet, erzählt, einst habe ein Hirte seine Schweine auf diesen Berg getrieben, und da hätten die Tiere eine alte, versunkene Glocke in dem Boden aufgewühlt. Diese Glocke wäre dann von den Leuten auf einen Wagen geladen worden, und ein blinder Schimmel hätte die Last fortgezogen, bis er auf der Stelle der heutigen Bergebersbacher Kirche angekommen wäre. Hier hätte der Schimmel von selbst gehalten und hätte mit dem Hufe den Erdboden gestampft. Und das hätte man als das Zeichen Gottes angesehen, dass ihm hier ein Haus zu seiner Ehre erbaut werden sollte.
Volkssagen sind meist nicht völlig erfunden; ein Körnlein Wahrheit liegt wohl darin. Das Wahre an unserer Sage ist vielleicht dies, dass lange Zeit vorher, ehe die Glocken der Bergebersbacher Kirche die Gemeinde zum Gottesdienst riefen, vom „heiligen Berg“ einst ein Glöcklein ins Land hinein erklang.
Der Name des Berges im Volksmund ist „Schlossberg“. Die Sage erzählt von ihm, dass hier einst die Herren der ganzen Gegend gehaust hätten.
Es ist dies die letzte Erinnerung daran, dass hier im Mittelalter eine Burg gestanden hat – die Burg der Landgrafen von Hessen, der „Hessenwald“.
Wohl nach der Zerstörung der Burg Dernbach bei Herborn hatten sich hier um 1326 die Landgrafen von Hessen, Otto der Schütz und sein Mitregent Heinrich II., der Eiserne, in ihrer Fehde mit den Grafen von Nassau=Dillenburg durch Erbauung des Hessenwaldes einen neuen Stützpunkt geschaffen. Eine stattliche Burg muß der Hessenwald gewesen sein, gibt doch Landgraf Hermann der Gelehrte in dem um 1377 aufgestellten Schadenregister, in dem er alle Sünden seiner Gegner aufzählt, die Baukosten von „Hessenwald“ auf 1 200 000 Schilde Turnos an, während die Baukosten von Wallenfels nur 350 000 Schilde Turnos betrugen.
Von dem Hessenwald aus, der seine ganze Umgebung überragt, gab es einen weiten Luginsland. Von hier aus konnte den verbündeten Adligen von Bicken im nahen Ebersbach bei feindlichen Einfällen rasche Hilfe gebracht werden. Von hier aus ließ sich ins Dillenburger Land manch kühner Beutezug unternehmen, und hier hinter den festen Mauern der Burg konnte man bei Angriffen feindlicher Übermacht rasch sicheren Schutz suchen.
Was später mit der Burg Hessenwald, die zur Zeit des Landgrafen Hermann des Gelehrten noch stand, geworden – wir wissen es nicht, ihr Name kommt in der Geschichte nicht mehr vor. Nur die Chronik des Wigand Gerstenberg erzählt noch einmal von ihrer Erbauung: „So bestunt der alte furste (Landgraf Heinrich II., der Eiserne) zu buwen geyn den von Nassauw, unde buwetet zu Ysemerade (Wallenfels bei Eisemroth) unde den Hessenwalt“.
Nur hat der Chronist irrtümlich die Erbauung in viel spätere Zeit gelegt.
Die Burg Hessenwald, die im 15. Jahrhundert für die Landgrafen von Hessen keine Bedeutung mehr hatte, wird dann langsam verfallen sein. –Auf dem Schlossberg war es wieder stille geworden. Nur wenn die Einwohner im nahen Roth bauten, kam wieder Leben auf den Berg: die Burg wurde als Steinbruch benutzt. Was an Mauerresten schließlich im 18. Jahrhundert noch stand, damit haben die Rother um 1750 bei ihrem damaligen Kirchbau gründlich aufgeräumt.
Die Burg ist heute verschwunden. Nur der in den Felsen gesprengte Halsgraben und ein noch eben sichtbarer Mauerrest an der Südwestseite des Wallgrabens, ebenso umherliegende Mauersteine, die alle Spuren von Mörtel an sich tragen, und die im Osten der Burg gelegene Wasserstelle, deren Lage die Rother Einwohner heute noch kennen, geben dunkle Kunde von ihr. Im Norden der Felskuppe ruhen unter der Erde Fundamentmauern verborgen. „Versunken und vergessen“, das ist das Schicksal des „Hessenwaldes“ gewesen.
Wenn die Rother an langen Winterabenden ihre Spinnstuben hielten, da wurde oft auch vom nahen Schlossberg gesprochen, von seinen verschütteten Kellern, in denen noch allerlei Schätze schlummerten, und von der einen Stelle oben am Berg, an welcher im Winter der Schnee nicht liegen bliebe, wo wohl der Eingang zu den Kellern sei.
Was Wunder, wenn da manchmal auf dem Schlossberg geschatzgräbert wurde! Einzelne Funde sind auch hier oben gemacht worden. In dem Halsgraben, der vor mehreren Jahrzehnten von Steinbrücken ausgeräumt wurde, fanden sich Hufeisen. Ein Kruzifix und eine kleine, mit fünf Löchern versehene Eisenplatte brachte ein Rother Mann zu Tage. Leider sind diese Fundstücke verkommen. In den letzten Jahren wurden nördlich der Felskuppe Fundamentmauern blosgelegt und mittelalterliche Scherben dabei gefunden, die den in den Ruinen der Burg Dernbach bei Gladenbach gefundenen älteren Scherben ganz gleich sind.
Nach der heißen Wanderung zum Schlossberg hinauf lässt`s sich hier oben im Schatten auf den moosbewachsenen Felsen gut ruhen und träumen. Was das leibliche Auge hier auf der Bergeshöhe nicht mehr sieht, das schaut jetzt das geistige Auge:
Droben an der Felskuppe des heiligen Berges im Schatten versammelt. Sonnwendfest gilt es zu feiern. Durch lodernde Sonnwendfeuer springt jauchzend die Jugend. Oben am Felsblock bringen die Männer dem Sonnengott ihre Opfer dar, und in die sinkende Nacht hinein klingt der Heilruf: „Heil dir, Baldur, Heil!“ –Jahrhunderte weiter. – In das Dunkel der heiligen Haine der Germanen sind die ersten Lichtstrahlen der frohen Botschaft von dem Weltenheiland hineingedrungen. Rohgefügt steht vor uns auf dem heiligen Berg ein kleines Haus, an dessen Dachbalken ein Glöcklein hängt, und vor dem Haus aus zwei Stämmen gebildet ein ragendes Kreuz. Hier unter dem Kreuz erzählt ein von fern her gekommener Mann der aufhorchenden Menge von dem Einen wahren Gott, von Allvater, dem Guten, der die Menschen geschaffen und sie liebt, und von seinem Sohne, dem Heiland und Herzog der Seelen, der in blutigem Ringen den Bösen, der Menschheit Feind, bezwungen und sein Leben dahingegeben zur Rettung für viele. Und wenn am Morgen und am Abend vom Berge der zuvor nicht gekannte, zauberhafte und geheimnisvolle Klang des Glöckleins ins Tal hinabklingt, dann raunen`s sich aufhorchend die Leute unten zu: „Der heilige Mann redet mit seinem Gott!“ –Jahrhunderte weiter. – Auf dem Schlossberg steht vor uns ein stattlicher Burgbau. Aus dem Tor des Burghofes über die Zugbrücke reiten des Landgrafen reisige Knechte. Hinaus geht`s aus der engen Burg ins Feindesland, um zu plündern und zu brennen, auf „Nahme“ und „Brand“. Heisa, wenn der Wageritt gelungen, wenn die Mannen am Abend beutebeladen heimkehren und dann kühler Labetrunk aus dem Burgkeller ihnen die linde Maiennacht versüßt! Rauh klingt dann dazu das Trutzlied der unter der Linde im Burghof bechernden Gesellen:
- „Hüte dich vor dem Landgrafen von Hessen,
- Willst du nicht werden gefressen!! –
Das Träumen ist zu Ende, die Wirklichkeit ist wieder da. – Siehe! Ein alter Fuchs, der sich im ehemaligen Burgbering seinen Bau gegraben, hat seine Behausung eben verlassen. Neugierig blickt er eine Zeit lang umher. Dann trottelt er den Wald hinab, um dem Vorbild der ehemaligen Burgbewohner zu folgen, um Beute zu erjagen.