Die Eisenbahn im Dietzhölztal

„Welch reizvollen Anblick mag in alten Zeiten ein Wanderer gehabt haben, der in der Abenddämmerung droben am Sasenberg stand, wenn drunten im Schoßseifen der Bergmann aus der Grube Schacht emporstieg und freudig heim eilte zu Haus und Herd , wenn drüben an den Bergeshalden zahlreiche Kohlenmeiler rauchten, wenn tief unten auf der Steinbrücker Hütte die Feuergarben hoch aufloderten und die Funken in den alten Eschen und Pappeln um die Hütte spielten. Und dieses stimmungsvolle Bild wurde noch eindrucksvoller durch das Knarren der schwerbeladenen Wagen auf den Straßen im Tal , durch das Klirren der Eisenwaren, durch das Klagegetön der Bälge und durch des schweren Hammers dumpfes dröhnen, das vom Teichhammer herüberschallte“ .

Aus dem Jahre 1911 ist uns diese wehmütig klingende Phantasie, wie die gute alte Zeit bei Steinbrücken einmal ausgesehen haben könnte, überliefert. Sie stammt aus der Feder des Ewersbacher Pfarrers Karl Nebe, der sich neben seinem Beruf intensiv der Heimatforschung widmete und in jenen Jahren in der „Zeitung für das Dilltal“, der Vorgängerin unserer heutigen „Dill-Zeitung“, allerhand über die Vergangenheit des Dietzhölztales veröffentlichte.


Noch keine zwanzig Jahre waren es her zu diesem Zeitpunkt, dass die Eisenbahn die Dörfer an diesem Flüsschen an die große weite Welt angebunden hatte. Der Anblick des „modernen“ Verkehrsmittels, das mit seinem Schnauben und Fauchen, seinem Zischen und Dampfen, seinem Pfeifen und Bimmeln ja so viele Unruhe in die Heimat gebracht hatte, das störte im Jahre 1911 den Romantiker, der von der Beschaulichkeit der schönen alten Zeit schwärmte.
Wie würde heute ein Heimatfreund die Sätze formulieren, wenn er von einem der Hänge und Berge links oder rechts der Dietzhölze hinunter ins Tal schaute, die Schienen unter sich, die tot daliegen, und einige Meter weiter die Bundessstraße, mit einer nicht enden wollenden Blechlawine von Personen- und Lastkraftwagen, die es den Anwohnern zu manchen Tageszeiten schwer macht, auf die andere Seite der Straße zu wechseln?
Vielleicht könnten sie so beginnen:
Welch reizvollen Anblick mag in alten Zeiten ein Wanderer gehabt haben, wenn in den Nachmittagsstunden eine Dampflok der Baureihe 94 am Bahnhof hielt, und aus den Waggons der dritten und vierten Klasse die Bergleute heimwärts strömten, die ihre Schicht in einer der ScheIderwaldgruben hinter sich hatten, und die Hüttenarbeiter, die am NiederscheIder Nordbahnhof und am HaItepunkt Adolfshütte dem Zug gestiegen waren, und zwischen ihnen noch einige Fahrgäste, die in der Kreisstadt Dillenburg wichtige Besorgungen zu erledigen hatten?
In der Tat: Heute ist das Dampfroß Nostalgie. Wie viele Heimatfreunde, wie viele Eisenbahnfans würden Tausende von Mark hinlegen, wenn eine Zeitmaschine sie für ein paar Stunden in jene vielbeschworene gute alte zeit zurückversetzen könnte, in die Zeit vor sieben, vor fünf oder auch nur vor zwei Jahrzehnten, als die schwarzen Ungetüme noch fuhren?!
Doch wollen wir der Wirklichkeit ins Auge schauen: Gut war die alte Zeit für die meisten Menschen fast nie. Es mögen allenfalls die letzten zwei Jahrzehnte vor dem Ende des Dampfbetriebs im Jahre 1972 gewesen sein, daß es einer größeren Anzahl Bewohner der Dörfer zwischen Frohnhausen und Ewersbach vergönnt war, einen Urlaubstag auch dafür zu nehmen, werktags die Eschenburg oder einen anderen Hügel zu erklimmen, und den Blick auf die Betriebsamkeit im Tal zu genießen.
Noch in den 50er Jahren bedeutete Feierabend für diejenigen, in Wissenbach oder in Eibelshausen oder an einer anderen Station den Zug verließen: Jetzt folgt die Arbeit auf dem Felde und im Stall, und dafür gingen auch die meisten Urlaubstage drauf.

Gruben- und Hüttenarbeiter

So wird auch der zitierte Bergmann von Karl Nebe, der in dem Jahrhundert zuvor dem Schacht im “Schoßseifen“ entstieg, wohl selten freudig geschaut haben, eher kummervoll, weil er auch jetzt nicht der Sorgen ledig war, wie er die Mäuler zu Hause stopfen konnte.
Blicken wir zurück in diese Zeit, bevor die Eisenbahn gebaut wurde. Die Landwirtschaft machte die meisten Menschen im Dietzhölztal längst nicht satt. Die Arbeit in den paar nahe gelegenen Gruben, in den Hütten und Hämmern zwischen Wissenbach und Ewersbach, in der Köhlerei und bei den Fuhrleuten, die die Hütten mit Eisensteinen und Holzkohlen versorgten, bot zusätzliche Einnahmequellen, aber auch nicht für alle.
Doch selbst die, die Broterwerb in den Gruben des Schelderwaldes hatten, gehörten noch zu den Glücklicheren, auch wenn sie frühmorgens eine Stunde und mehr marschieren mußten, bevor sie für einen langen Tag in den Berg einfuhren, und abends den gleichen Weg wieder nach Hause hatten.
So weiß man, daß in der Mitte des letzten Jahrhunderts, als eine englische Gesellschaft die Kupfererzgruben „Neuer Mut“, „Gemeine Zeche“ und andere Bergwerke bei Nanzenbach und auch weiter drüben im ScheIderwald gekauft hatten, die Nanzenbacher auf die Idee kamen, sich Knechte von außerhalb zu mieten und für sich bei den Engländern arbeiten zu lassen. Im Jahre 1843 waren es achtzehn, davon allein sieben aus Mandeln, die die Nanzenbacher auf eigene Rechnung in den Berg schickten.

Gastarbeiter im Siegerland

Viele mußten auch den langen Weg ins Siegerland auf sich nehmen, wo die großen Eisenerzgruben schon jährlich Tausende von Tonnen Roherz förderten, wie der „Stahlberg‘ bei Müsen schon 1856 mit 17.000 Tonnen, und teilweise schon Hunderten von Arbeitern Lohn gaben, zu einem Zeitpunkt, als viele der Zechen an Lahn und Dill gerade einer Handvoll Männer beschäftigten.
Am Sonntag machten sie sich zu Fuß auf den Weg über die Haincher-Höhe und blieben bis zum Samstag in den Gruben, denn der weite Heimweg war an den Werktagen nicht zu bewältigen. Für sie hatten die Grubeneigner besondere Schlafhäuser gebaut bei ihren Zechen, so wie es sie im ScheIderwald damals auch gab für die Knappen aus dem
Hinterland.
Nach der sechstägigen Arbeitswoche ging es am Samstag heimwärts. In billigen Schnaps investierte dann manch einer gleich einen Teil seines Wochenlohns, und die Flasche war leer, wenn er zu Hause ankam, so war es auch noch in den letzten zwanzig Jahren, bevor die Eisenbahn von Dillenburg nach Straßebersbach* gebaut wurde.
Daß es dann von den überarbeiteten, gestreßten und betrunkenen Vätern zu Hause für Frauen und Kinder Prügel gab, das hatte die heute 76jährige Hilda Weg, eine passionierte Heimatforscherin aus Wissenbach, noch als kleines Kind von ihrer Großmutter erzählt bekommen, wenn diese von ihren Kindheitserlebnissen berichtete.
* Bis zum 1. April 1937 bestand das heutige Ewersbach aus zwei selbständigen Gemeinden:
Straßebersbach und Bergebersbach
Doch welche Alternative hatten die Wissenbacher damals? 1879 war ihr Dorf abgebrandt. Wer sein Haus neu erbaute, mußte sich auf Jahrzehnte verschulden, und der nahm jede Arbeit an, egal unter welchen Bedingungen. Erst die christlichen Erweckungsbewegungen, die zur Jahrhundertwende aufkamen, brachte manchen Familienvater vom Alkohol weg, und das moderne Verkehrsmittel Eisenbahn schuf die Arbeitsplätze, die den meisten Familien auch werktags die Väter zumindest am Abend zurückgab.

Alte Verkehrsverbindungen

Über die alten Verkehrsverbindungen, die es vor der Eisenbahnzeit gab, informieren uns wieder die heimatkundlichen Arbeiten von Karl Nebe, die vor dem Ersten Weltkrieg in der Zeitung für das Dilltal“ abgedruckt waren. „Von Dillenburg ward von 1842 bis 1846 eine Chaussee über Eibelshausen nach Biedenkopf gebaut. Durch die am 15. Januar 1862 erfolgte Eröffnung der Deutz-Gießener Bahn, die an dem nahen Dillenburg vorbei führte, rückte auch das Dietzhölztal dem großen Verkehr immer näher .Mit Neujahr 1863 wurde die Postverbindung Dillenburg-Biedenkopf, die über Eibelshausen führte, eröffnet. Damals erklang zum ersten Male das Posthorn im Dietzhölztale. Im folgenden Jahre 1864 wurde mit den Chausseebau Eibelhausen- Steinbrücken-Straßebersbach-Rittershausen-Hainchen begonnen, der 1866 beendet wurde“.
Die nassauische Herrschaft über das Dietzhölztal ging in diesem Jahr zu Ende: Auf der Seite der Verlierer hatten die Nassauer im preußisch-österreichischenKrieg 1866 mitgefochten, und so wurde das Dietzhölztal mit dem soeben neu ins Leben gerufenen Dillkreis preußisch. Der Verkehr und die neuen Kommunikationsmittel entwickelten sich freilich weiter. Wieder berichtet uns der Bergebersbacher Pfarrer Nebe:
„Bereits 1867 war in Eibelshausen eine Poststation errichtet worden. Am 1. September 1872 erfolgte dann die Errichtung einer Postagentur zu Straßebersbach, aus der dann später ein Postamt wurde. Mit dem 1. März 1874 ward die Postfahrt Straßebersbach-Eibelshausen eingerichtet.
Der Post folgte später Telegraph und Telephon: am 1. April 1879 wurde Eibelshausen Telegraphenstation, und am 8. Sept. desselben Jahres wurde die Telegraphenlinie bis Straßebersbach verlängert. später bekamen unsere Dörfer Telephonanschluß, so Rittershausen, Offdilln und Weidelbach 1906″.
Doch das war zu einem Zeitpunkt, als der Eisenbahnverkehr zwischen Dillenburg und der Ewersbacher Neuhütte schon längst zum Alltag gehörte. Welche Pläne die Fans des neuen Verkehrsmittels alle hatten; wie dafür gefochten werden mußte, bis 1892 tatsächlich der erste Zug im Dietzhölztal fuhr, das soll zunächst geschildert werden.

Erste Bahnprojekte

Als es gerade einige Jahre her war, daß die Köln-Mindener Bahngesellschaft den Verkehr auf der Strecke eröffnet hatte, die durch Dillenburg führte, und als es noch über zwei Jahrzehnte dauern sollte, daß fleißige Hände Hacken und Schippen zum Bau der Bahn nach Ewersbach tatsächlich in Bewegurig setzten, wurden die verschiedenen Eisenbahnprojekte in der Öffentlichkeit diskutiert, die das Dietzhölztal berühren sollten. Verwirklicht davon wurde in der ursprünglich geplanten Form keines, aber dennoch sollen sie hier dargestellt werden, geben sie doch Aufschluß darüber, welche hohe Erwartungen man damals bezüglich der Zukunft des neuen Massenverkehrsmittels hegte. Drei Varianten der Streckenführung waren es, die im Gespräch waren.

Die Lenne-Lahn-Dill-Bahn

Ob sie tatsächlich das am meisten favorisierte Vorhaben war oder ob sie zufällig einen Fan unter den Dillenburger Zeitungsmachern hatte, können wir heute nicht mehr herausfinden, jedenfalls widmete das „Kreisblatt für den Dillkreis“ der Lenne-Lahn- Dill-Bahn breitesten Raum.
Von Altenhundern, einer Station der Bergisch-Märkischen Bahn, sollte diese „Secundärbahn“* einerseits über Laasphe und Biedenkopf bis nach Cölbe gehen, wo sie Anschluß an die Main-Weser-Bahn finden sollte, und andererseits von Laasphe über das Banfe- und das Dietzhölztal, um in Dillenburg die Deutz-Gießener Bahn zu erreichen.
Ende Januar 1869 berichtete das „Kreisblatt“ von einer bevorstehenden Aktionärsversammlung der „Bergisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft“. Unter der Rubrik „Tagesbegebenheiten“ schreibt es:
„Von der Direction der Bergisch=Märkischen Eisenbahn=Gesellschaft sind die Actionäre statutmäßig zu einer zweiten Generalversanmlung auf den 20. d. Mts. zur Beschlußfassung über die Ausführung der projectirten Lenne=Lahnbahn eingeladen worden.
Von der Entscheidung über diese Bahn hängt auch das Schicksal des Projectes einer davon abzweigenden Bahn nach der Dill ab, welche bei einer Länge von kaum 2 3/4 Meilen das Banfe- und Dietzhölzthal passiren, vorerst bei Dillenburg in die Deutz=Gießener Bahn einmünden würde und später über Leun, Braunfels, Usingen bis Homburg (Frankfurt) fortgesetzt werden könnte.
Diese Zweigbahn würde das westfälische Steinkohlengebiet in geradester Linie mit den wegen ihrer Montan= und Hütten=Industrie, beziehungweise ihres Holzreichthurns in neuerer Zeit so oft genannten Kreisen Wittgenstein, Biedenkopf, Dillenburg und Wetzlar verbinden.
Die Terrain=Verhältnisse bieten, wie einfache geometrische Messungen ergeben werden, für den Bau derselben keine erheblichen Schwierigkeiten. Ueber die Rentabilität und die große Bedeutung der Bahn für die westfälischen industriellen Etablissements und die Eisen=Industrie im oberen Lahn=, Dietzhölz= und DillthaI, ingleichen für die Eisenerzgruben in den Kreisen Dillenburg und Wetzlar und endlich für die Waldungen in den Kreisen Wittgenstein und Biedenkopf herrscht um so weniger Zweifel, als die großartigen Eisenerz=Niederlagen in den Kreisen Dillenburg und Wetzlar die Hüttenwerke in Westfalen, in dem oberen Lahn= und Dietzhölzthale mit den nöthigen Erzen versorgen, und
diese Werke, so wie diejenigen im Dillthale ihre Steinkohlen aus dem Ruhrgebiete und ihre wegen der Gußwaaren=Fabrication gar nicht zu entbehrenden Holzkohlen größten theils aus den Kreisen Wittgenstein und Biedenkopf beziehen.
Erwägt man überdies, daß bloß der Transport der Producte der Berg= und Hütten=Industrie, und zwar nur in der Richtung von Wetzlar und Dillenburg nach Altenhundem nach amtlichen Quellen in dem für diese Industriezweige
sehr ungünstigen Jahre 1867 8,309,195 Ctr. oder täglich 231 Waggons betragen hat, welches Transport=Quantum, sobald die Banfe=Dillbahn gebaut wird, sich verdoppeln, ja verdreifachen würde, so darf man mit Recht erwarten, daß die Direction der Bergisch=Märkischen Eisenbahn=Gesellschaft in der besagten General=Versammlung von den Actionären neben der Genehmigung der Lenne=Lahnbahn auch die Ermächtigung zum sofortigen Baue dieser Zweigbahn erhalten wird“.
Auf der gleichen Seite des Blattes wurde übrigens an anderer Steile eine von Dillenburg ausgehende Stichbahn in den Schelderwald zur Erschließung der Eisenerzgruben gefordert, womöglich mit einer direkten „Verbindung des Eisensteinreviers über die Höhe …mit dem Gansbachtal“, ein Vorschlag, der tatsächlich Wirklichkeit werden sollte, wenn auch zunächst nur bis zum Nikolausstollen und erst über vierzig Jahre später bis in das Gansbachtal und
weiter bis Wallau. Indes, der Redakteur hatte sich getäuscht bezüglich seiner Erwartungen, was die Banfe-Dill- Bahn betraf. So dämpfte die Zeitung auch zwei Monate später die Hoffnungen der Bewohner des Dietzhölztales:
„Auf das Gesuch der hiesigen Handelskammer bei den Königl. Ministeriums für Handel und Gewerbe in Angelegenheit der Banfe-Dill-bahn hat das Letztere erwiedert, daß das Project der Verbindungsbahn zwischen der Ruhr-Sieg und Main-Weserbahn noch nicht so weit fortgeschritten sei, um das Project einer Zweigbahn Banfe-Dillenburg in Berücksichtigung ziehen zu können. Im Betreff der Scheldethal=Bahn sei es nöthig, daß im Interesse: der fiscalischen, sowie Privatgruben dieselbe so bald als, möglich zum Ausbau gelange“.
Handfeste wirtschaftliche Interessen waren es also, die darüber entschieden, welches Vorhaben Vorrang erhalten sollte, und so sollte es über Jahrzehnte bleiben. Wen wundert’s, daß der Konkurrenzneid zwischen den Gemeinden bei den öffentlichen Auseinandersetzung über die Bahnprojekte nicht ausblieb?!
Einige Jahre Ruhe scheinen eingekehrt zu sein nach dieser für manchen so niederschmetternden Meldung des Jahres 1869. In den Zeitungen der Folgejahren lesen wir kaum etwas über dieses Vorhaben. Erst sieben Jahre später erleben wir einen neuerlichen Anlauf der Anhänger einer Bahn durch das Dietzhölz- und das Banfetal.
Am 10. Januar 1876 fand in Laasphe eine Generalversammlung des „Eisenbahncomite’s zur Erbauung der Lenne-Lahn-Dillbahn“ statt. Zu den zahlreichen Besuchern gehörten auch sieben Abgeordnete vom „hiesigen Eisenbahncomite“. Offensichtsichtlich waren die Herren des Comites in der Zwischenzeit fleißig gewesen, denn das Kreisblatt berichtete:
„Die genauen Pläne über den Bau der Bahn, sowie ein specificirter Kostenanschlag lagen vor; nach letzteren wird der Bau als Secundärbahn, wie er in Aussicht genommen ist, 9 Millionen Mark kosten“.
Sowohl das Biedenkopfer als auch das Dillenburger Comite, so wurde an diesem Tag beschlossen, sollten sich an das Königliche Ministerium wenden, um die Konzession zum Bauen zu erhalten.
Rund fünf Wochen später wurde aufgeschlüsselt, wie die 9 Millionen Mark zu finanzieren seien:
„Bereits irn vorigen Monat hat das Comite die Pläne und Kostenvoranschläge dem Königl. Handelsminister mit einer Petition um Gewährung eines Staatszuschusses von 3 Mill. Mark und um Ertheilung der Concession zur Erbauung der Bahn vorgelegt. Die Erreichung des Ziels hängt nun wesentlich davon ab, daß die betr. Kreise, Gemeinden undnBewohner das Ihrige zur Unterstützung des Unternehmens thun. Denn neben dem zu erwartenden Staatszuschuß müssen nahezu 6 Million Mark aufgebracht werden.
Etwa 1 1/2 Million Mark sind bereits zugesichert von den Hüttenwerken, den Fürsten zu Wittgenstein und Berleburg und einzelnen Gemeinden. Die Stadtgemeinde Biedenkopf betheiligt sich mit 100.000 Mark, Laasphe mit 30.000 Mark; der Wittgensteiner Kreistag hat 150.000 Mark zugesichert und von einzelnen Bewohnern Biedenkopfs sind (abgesehen von 30.000 Mark, deren Zeichnung an eine höchst wahrscheinlich unerfüllbare Bedingung geknüpft, mithin voraussichtlich werthlos ist) bis jetzt 55.200 Mark unter den vom Comite gestellten Bedingungen gezeichnet.
Da, wenn Staatszuschuß gewährt wird, die Rentabilität der projectirten Bahn nicht zu bezweifeln ist, und da die Zeichnung nur unter der Bedingung erfolgt, daß neben dem Staatszuschuß der volle Betrag des 6 Millionen Mark betragenden Actiencapitals aufgebracht wird, so darf man wohl erwarten, daß die Beteiligung der Kreisbewohner an den Zeichnungen eine lebhaftere werde“.
Auch über die mögliche Streckenführung wird an diesem Tage in der Zeitung spekuliert:
„Dasselbe Blatt schreibt ferner unterm 15. d. M.: Der Kreistag verwilligte 300.000 Mark für die Kosten desjenigen der beiden Projecte (Altenhundem=Kölbe; Altenhundem=Kinzenbach), welches zur Ausführung kommen wird.
Sodann sprach der Kreistag es als wünschenswerth aus, daß die Bahn in einer den Kreis Biedenkopf in möglichst großer Ausdehnung berührenden Richtung erbaut werde. Die Strecke Altenhundem=Biedenkopf=Kölbe ist auf circa 6 Millionen Mark, die Linie Altenhundem=Gladenbach=Kölbe dagegen auf circa 9 Million Mark Kosten veranschlagt
(offensichtlich liegt hier ein Fehler vor im Originaltext, gemeint sein dürfte bei der zweiten Variante die Streckenführung Altenhundem-Gladenbach-Kinzenbach, UH). Das Comite für die erste Lienie will mit Hilfe des Staatszuschusses von 3 Million Mark die Bahn (nebst der Strecke Laasphe= Dillenburg) auf eigne Kosten bauen, das ‚Comite für Verkehrsinteressen zu Gladenbach‘ dagegen rechnet darauf, daß der Staat, wenn die Kreise das Gelände stellen, die Bahn ganz auf eigne Kosten baue! Ob nun der Staat lieber das letztere thun und hierzu circa 9 Million Mark aufwenden will, oder ob er es nicht vielmehr vorziehen wird, für das weit billigere Project Altenhundem = Biedenkopf = Kölbe 3 Million Mark beizusteuern? das wird die Zukunft lehren.“
Das kleine Dorf Kinzenbach übrigens liegt bei Gießen an der sogenannten Kanonenbahn, die aus strategischen Gründen von der Reichshauptstadt Berlin bis nach Metz gebaut wurde und die von Lollar bis Wetzlar einige Kilometer lang parallel zur Main-Weser-Bahn lief.

Secundärbahnen – Bahnen der Zukunft

Mit der 18. Ausgabe, vom 1. März des Jahres 1876, ging das Kreisblatt für den Dillkreis“ – das damals mittwochs und samstags erschien – in die Vollen: Es druckte den ersten Teil des Plädoyers für die Lenne-Lahn-Dill-Bahn ab, neun weitere Teile sollten in den Folgeausgaben erscheinen.
Zusammengefaßt sollen die wichtigsten Argumente, mit denen die Anhänger dieses Projekts für ihre Sache kämpften, hier wiedergegeben werden. Es war das „System der Secundärbahnen“, in dem man die Lösung sah, „die Industrie, die
abseits von den Hauptschienenstraßen sich bereits befindet, zu beleben und neue Industriezweige zu schaffen, Gegenden aufzuschließen und Umwege abzukürzen“. „Die große eisenbahnmäßige Geschwindigkeit“ sollte dafür geopfert werden, so daß die Anforderungen in Bezug auf Schnelligkeit und somit auch auf Konstruktion und Sicherheitsmaßregeln gesenkt werden konnten. Eine Reduzierung der Kosten sowohl für den Bau als auch für den Unterhalt auf weniger als sechzig Prozent versprach man sich dadurch.
„In Berücksichtigung aller dieser Umstände und nach Erwägung aller einschlagenden Verhältnisse haben die in Laasphe und Biedenkopf bestehenden Eisenbahn-Comites beschlossen, eine Secundäreisenbahn von Altenhundem …einerseits über Laasphe und Biedenkopf nach Cölbe …, andererseits von Laasphe nach Dillenburg zu erbauen, die
Concession für dieselbe nachzusuchen und Gründung einer Lenne-Lahn-Dill-Eisenbahngesellschaft ins Leben zu rufen“.
„Secundärbahnen werden die Bahnen der Zukunft sein“, beginnt hoffnungsvoll die zweite Folge. Drei Systeme dieserzweitrangigen Bahnen werden vorgestellt:
„1. Secundärbahnen mit nomaler Spurweite, d.h. solchen, wie sie unsere Hauptbahnen besitzen, und mit einer Geschwindigkeit von über 1 2 Kilometer (1,6 Meil.) per Stunde.
2. Secundärbahnen mit normaler Spur und einer Maximalgeschwindigkeit von 12 -15 Kilm, per Stunde, d.h. mit einer größten Geschwindigkeit von 1 3/5 – 2 Meilen in der Stunde.
3. Secundärbahnen mit engerer Spur als die Hauptbahnen und einer größeren oder geringeren Geschwindigkeit als 12 Kilom. per Stunde“.
Es wurden die bereits existierenden schmalspurigen Bahnen der näheren und weiteren Umgebung vorgestellt -eine davon befand sich bei Haiger. Sie dienten alle dem Erztransport. Das Urteil über sie lautete jedoch: „Als Bahnen der Zukunft können wir …diese schmalspurigen nicht ansehen“.
So sah man in einer Kombination der Systeme 1 und 2 die Lösung für die angestrebte Lenne-Lahn-Dill-Bahn, hätte sie doch „wenigstens einerseits von Feudingen resp. Laasphe bis Cölbe, andererseits von Eibelshausen bis Dillenburg als Thalbahh erbaut werden“ können, was ja doch die „hohen“ Geschwindigkeiten von mehr als 12 km/h ermöglicht hätte.
Wie einer möglichen „Raserei“ der Lokführer auf einer solchen in Billigbauweise erstellten Strecke entgegen zu treten sei, wußte die Zeitung ihren Lesern auch mitzuteilen:
„Um die Willkühr beim Betrieb solcher auf eine bestimmte Geschwindigkeit festgestellter Bahnen vollständig auszuschließen und sicher sein zu können, daß nicht etwa auf einer Strecke entstandene Verspätungen auf einer anderen wieder eingeholt werden – kurz – dass es der Macht des Locomotivführers vollständig entzogen bleibt, die normirte Geschwindigkeit der Bahn beliebig zu überschreiten, hat die Rheinische Eisenbahngesellschaft bereits im
Jahre 1870 drei Preise von 1000, 500 und 250 Thlr. ausgesetzt für die Construction einer Locomotive, deren Organismus die Ueberschreitung einer bestimmten Geschwindigkeit unmöglich mache. Dieses Problem wurde s.Z. von dem Obermaschinenmeister Prund der Breslau=Schweidnitz=Freiburger Bahn gelöst und demselben patentirt“.
Alsdann wurde aufgelistet, wie sich die Kosteneinsparungen beim Bau und Betrieb einer Secundärbahn begründen. Sie könne sich dem Gelände anpassen, auch mit geringeren Halbmessern bei den Kurvenradien. Die Schienenübergänge könnten ebenerdig sein, da den Fuhrwerken und Fußgängern wegen der langsameren Zuggeschwindigkeit kaum Gefahr drohe, und sollte tatsächlich einmal auf den Bau eines Tunnels nicht verzichtet werden können, so sei selbst dessen Anlage billiger, weil eine Secundärbahn auf das zweite Gleis verzichte und durch das verkleinerte Profil eine Tunnelausmauerung oft überflüssig sei. An Unter- und Oberbau würden geringere Ansprüche gestellt, bei Schienen und Schwellen seien deshalb „sogar ausrangierte Stücke der Hauptbahnen noch sehr gut verwendbar und zulässig, ohne den Betrieb der Secundärbahnen im mindesten zu gefährden“.
Drehscheiben, Schiebebühnen, Rangierweichensysteme, Wasserstationen, Bahnwärterbuden etc. könnten zum Teil entbehrt oder doch auf ein Minimum beschränkt werden, und Stationsgebäude und kleine Güterschuppen seien in einfachster Fachwerkbauweise zu errichten.

Weniger Verschleiß

Der Autor kommt zu dem Ergebnis: „Die Herstellungskosten einer Secundärbahn belaufen sich auf weniger als die Hälfte derjenigen Ausgaben, welche für die Erbauung einer in derselben Richtung zu führenden Hauptlinie ausgegeben werden müssen“.
Alsdann versuchte er nachzuweisen, „wie beim Betrieb der Secundärbahnen Ersparnisse gemacht werden können“. Durch die verminderte Fahrgeschwindigkeit vermindere sich „der schädliche Einfluß auf Schienen, Schwellen, Brücken, Dämme, Locomotiven und Waggons“.
Da der Verschleiß im quadratischen Verhältnis mit der Zuggeschwindigkeit wachse, könnten bei halber Geschwindigkeit “alle Bahnwerke 4mal länger halten als bei der Hauptbahn“. Der nächste Sparfaktor sei das reduzierte Personal: „Auf den kleineren Stationen genügt ein Beamter, der zugleich den Dienst eines Telegraphisten, Güterexpeditienten, Billeteurs und Stationsvorstehers vorsieht und dem einige Handarbeiter unterstellt sind“. Einige Strecken wurden damals schon so betrieben, u.a. die Scheldebahn, die zu jenem Zeitpunkt gerade vier Jahre alt war und noch beim „Nicolausstollen“ endete.
Nach diesen allgemeinen Erläuterungen über Sekundärbahnen wurde die Zeitung im siebten Teil konkret:
„Das Comitee in Laasphe hat durch Aufwendung bedeutender Geldmittel die ganze Strecke durch der! im Bau von Secundärbahnen erfahrenen Herrn Baster Spieß aus Siegen vermessen lassen. Letzterer führte die Arbeiten der Strecke von Altenhundem nach Cölbe selbst aus und ließ diejenigen von Laasphe nach Dillenburge unter seiner Leitung durch ein anderes technisches Bureau herstellen „, die dann für die interessierte Öffentlichkeit u.a. auch im, Dillenburger Rathaus ausgelegt wurden.
Für die Strecke durch das Banfe- und das Dietzhölztal war das Büro zu folgenden Ergebnissen gekommen: „Die Abzweigung in Laasphe zum Dillthal steigt, meist das rechte Gehänge des Banfethales haltend und die Orte Herbertshausen, Banfe und Fischelbach berührend in abwechseInden Steigungsverhältnissen bis zur Wasserscheide von Dill und Lahm resp. bis zu dem das Banfe- und Dietzhölzthal trennenden Gebirgsrücken oberhalb Mandeln, durchfährt die Wasserscheide mit einem 380 Met. langen Tunnel und fährt dann stets fallend auf dem linken Ufer des Dietzhölzbaches bis nach Dillenburg. Der Bahnhof für Dillenburg ist oberhalb der Stadt projectirt und findet die Verbindung mit dem bestehenden Deutz=Gießener Bahnhof durch ein eignes Geleiste statt, wenn nicht die Mitbenutzung der Deutz=Gießener Bahn zwischen den beiden Bahnhöfen gestattet werden sollte.
Die stärkste Steigung dieser ganzen von Laasphe bis Dillenburg 30 Kilom. langen Strecke, welche 20 km. lang den Dillkreis berührte von der Mandelner Gemarkungsgrenze bis Dillenburg – beträgt auf die Länge von 1/2 Km. 1 : 50, sonst nirgends mehr als 1 : 60, während die meisten Steigungen auf die längsten Strecken unter 1 : 100 bleiben. Auch diese eine, starke, unmittelbar vor dem Tunnel auf Fischelbacher Seite liegende Steigung von 1 : 50 läßt sich gewiß noch verneiden, da unmittelbar eine Steigung von 1 : 400 vorhergeht.
Die stärksten Steigungen der Linie werden also nirgends vielmehr betragen als die vom Bahnhof Dillenburg der Deutz:=Gießener Bahn bis zum Kirchhof bei Dillenburg, welche 1 : 66 2/3 ausmacht. Auf der ganzen Länge von Laasphe bis Dillenburg sind 11 Horizontalen von zusammen ca. 3 Km. Länge für Bahnhöfe und Haltestellen eingelegt und ist damit hinlänglich dem Bedürfnis jeden Ortes Rechnung getragen“.

Mangelndes Engagement

Doch mit dem Engagement der heimischen Verantwortlichen in Kommunalpolitik und Wirtschaft für die Lenne-Lahn-Dill-Bahn war der Dillenburger Zeitungsschreiber nicht zufrieden. Während der Nachbarkreis Biedenkopf schon 400.000 Mark in Aussicht gestellt hatte und die Gladenbacher im Falle eines Baues der Linie von Biedenkopf nach Wetzlar – was die planerische Konkurrenz zur Bahn entlang von Banfe und Dietzhölze war – sämtlichen für den Streckenbau notwendigen Grund und Boden kostenlos zur Verfügung stellen wollte, „hat unser Kreis und unsere Stadt noch nichts getan, und es ist sehr fraglich, ob nicht durch unsere Sorglosigkeit die Bahn von Laasphe nach Dillenburg in Frage gestellt werden möchte“. Er richtete daher den flammenden Appell an sie:
„Ich möchte daher den Bewohnern des Kreises, der Stadt und dem Land nochmals zurufen:
Lasset uns rühriger sein und unser Interesse mehr betätigen, damit wir uns wenigstens sagen können, wir haben Alles gethan, was in unseren Kräften stand“.
Im zehnten und Schlußteil seiner Ausführungen fügte der Autor ein handfestes materielles Argument an. Das Comite für Erbauung der Banfe=Dillbahn habe in seiner im Jahre 1869 veröffentlichten Denkschrift, „in der nur wirkliche, den statistischen Nachrichten der Behörden und der Cöln-Mindener Bahn entnommene Zahlen aufgenommen wurden, für die Linie Altenhundem=Dillenburg eine jährliche Rein-Einnahme von 316.000 M.“ berechnet.

Vergebliche Mühen

Doch die Mühen des Journalisten schienen nicht auf zu fruchtbaren Boden zu fallen:
„Dillenburg, 23. April. Die gestern Abend im Rathaussaale stattgehabte Bürgerversammlung wegen Besprechung über den Bau der Lenne-Lahn-Dill- Bahn war nicht so zahlreich besucht, wie man es bei einer so wichtigen und nutzbringenden Angelegenheit für unsere Stadt hätte wünschen können“, erfuhren die Kreisblatt-Leser in der 34. Ausgabe des Jahres 1876, in der gleichen Nummer, als die Schlußfolge der zehnteiligen Serie über das Projekt
abgedruckt war. Nicht optimistischer klang die Einleitung des vom „Wittgensteiner Wochenblatt“ übernommenen Berichts zwei Monate später:
„Unsere Eisenbahn-Sache hat bisher nicht einen so erwünschten Fortgang gehabt, daß sie schon in der diesjährigen Landtagssession ihren formellen Abschluß finden konnte“.
Der Grund: Es waren erst für 1.854.000 Millionen Mark Aktien gezeichnet worden – ein Betrag, der nicht annähernd ausreichte. Denn inzwischen wurden die Kosten der Strecke Altenhundem-Cölbe alleine auf neun Millionen Mark geschätzt, die der Zweigbahn von Laasphe nach Dillenburg zuzüglich auf dreieinhalb Millionen Mark.
Abermals gut zwei Monate später klang es wieder etwas optimistischer aus der Zeitung:
„Die Zeichnungen zur Ausführung der Lenne=Lahn=Dillbahn in ihrem ganzen Projecte nehmen an vielen Orten in erfreulicher Weise ihren Fortgang“. Von einer „ausländischen Gruppe von Capitalisten“, „welche vermittels eines Agenten die Zeichnung von 6 1/2 Millionen Mark unter angemessenen Bedingungen vollziehen“ wollte – weil sie ihre Gelder lieber im deutschen Eisenbahnbau als in heimatlichen Berg- und Hüttenwerken anlegen wollte – ist jetzt voller Hoffnung die Rede.
Vermutlich war diese Gruppe es, die Anfang 1877 als „belgisch-französische Kapitalistengruppe“ bezeichnet wurde. Jetzt berichtete das Kreisblatt wieder über sie – weil die politische Großwetterlage deren Engagement zerschlagen hatte:
„Mochte anfangs die letzte Brüsseler Nachricht, daß die belgisch- französische Betheiligung an der Lenne=Lahn=Dillbahn in Rücksicht auf die Zeitverhältnisse und die Aufhebung der Eisenzölle sich nicht realisieren werde, .für diejenigen momentan niederdrückend sein, welche der Noth ein Ende gemacht sehen wollten, so sporte diese rückläufige Bewegung doch auch zu erneuter Thätigkeit nach verschiedenen Seiten hin an“.

Das Projekt Weidenau – Ewersbach – Dillenburg

Am 21. Februar 1877 tagte das Eisenbahn-Comite wieder. Diskutiert wurde an diesem Tage auch über eine weitere Bahnverbindung: Das Eisenbahn-Comite zu Netphen hatte eine Linie von Weidenau über Netphen und Ewersbach (oder Straßebersbach, wie es damals noch hieß) nach Dillenburg ins Gespräch gebracht – eine Variante, die in den folgenden Jahren immer wieder in der Meinungsbildung eine Rolle spielen sollte, wurde doch die heute zur wichtigsten heimischen Bahnroute gewordenen Anbindung an das Ruhrgebiet, die von Haiger direkt nach Siegen führt, erst eröffnet, als der Erste Weltkrieg schon begonnen hatte.
Um 1885 wurde über eine weitere Variante nachgedacht, dle die Verbindung von Weidenau durch die Haincher Höhe, die per Tunnel bewältigt werden sollte, über Ewersbach nach Dillenburg ergänzen sollte: Von Steinbrücken sollte sie abzweigen und dann über Mandeln, Ober- und Niederdieten, Breidenbach und Breidenstein bis nach Wallau führen sollte, wo sie an die Strecke Siegen-Biedenkopf-Marburg Anschluß gefunden hätte. Vergegenwärtigen wir uns: Der erste Spatenstich für die Bahn im Dietzhölztal war noch nicht getan, als alle diese Pläne in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Als dann einige Jahre später die Vermesser und Ingenieure und die vielen Arbeiter anrückten, um die Stichbahn bis Ewersbach zu bauen, kehrte natürlich mit der Zufriedenheit der Anlieger auch Ruhe über die oben dargestellten Pläne ein.
Erst nach der Jahrhundertwende, als die Dampfloks schon seit zehn Jahren die Dietzhölze entlang schnauften, warfen die Befürworter einer Streckenverlängerung durch das Banfetal noch einmal alle Ihre Argumente in die Waagschale. Immer dringlicher war eine direkte Anbindung von Dillenburg nach Biedenkopf geworden, mußten doch die vielen Güterwaggons, die das heimische Eisenerz zu den Hütten des Hinterlandes beförderten, ständig den langen Umweg über Gießen und Marburg bis nach Biedenkopf nehmen.
Ein heißer Konkurrenzkampf entbrannte zwischen den Bewohnern des Schelderwaldes, die ihre bis dahin beim Nikolausstollen, wenige Kilometer oberhalb von OberscheId, endende Strecke verlängert sehen wollten, und denen im Dietzhölz- und im Banfetal.
So steht am 2. März 1901 in der „Zeitung für das Dilltal“ zu lesen:
„Der vor kurzem in ihrer geschätzten Zeitung erschienene Artikel über eine Bahnverbindung Wallau-Dillenburg, der für die Führung dieser Linie über Lixfeld-Scheldethal Propaganda macht, bedarf einer Entgegnung. Das für die geplante Verbindung der oberen Bahn mit Dillenburg bestehende, viel ältere Projekt Dillenburg-Straßebersbach-Wallau ist nämlich aus mehrfachen Gründen weit empfehlenswerter. Annähernd die Hälfte dieser Linie, die 16 Kilometer lange Strecke Dillenburg-Straßebersbach, ist bereits als eine staatliche Nebenbahn gebaut und der Verkehr auf dieser 1892 im Betrieb befindlichen Linie hat die von ihr gehegten Erwartungen vielfach übertroffen.
Der fragliche Artikel nennt nun die wirtschaftliche Bedeutung des alten Projektes eine geringere und spricht von 150 Grubenfeldern, die auf der neuen Strecke der Erschließung harren. Dieser Behauptung ist entgegenzustellen, daß auf der Linie Straßebersbach-Wallau sich mindestens ebensoviele Grubenfelder befinden, und daß dieselben trotz der hohen Achsenfracht immerhin doch zum Teil betrieben werden, während die Gruben auf der Concurrenzstrecke im Kreise Biedenkopf sämtlich außer Betrieb sind. …Die Grünsteinbrüche von Achenbach, Oberdieten und Kleingladenbach fördern ein vorzügliches Material und können es in solchen Massen liefern, daß die Rentabilität der Bahn damit gesichert wäre.
Der Artikel sagt ferner, die Tunnelbauten zwischen OberscheId und Lixfeld (es war eine Untertunnelung der Wasserscheide beim heutigen Hirzenhain-Bahnhof eine Zeitlang in den Planungen, würden Aufschlußarbeiten für Grün- und Eisenstein sein und dadurch die Baukosten wesentlich verringern. Diese Annahme ist jedoch eine durch nichts bewiesene und im Gegenteil ganz unhaltbare Meinung, da das Urteil tüchtiger Fachmänner dahin geht, daß da, wo Tunnelbauten vorgenommen werden müssen, unmöglich Aufschlüsse zu machen sind. Bei dem alten Projekte aber sind gar keine Tunnelbauten nötig und überdies alle Steigungsverhältnisse weitgünstiger“.
Man sieht, es wurde mit harten Bandagen gekämpft. Übertreibungen sowie harte Attacken gegen die Meinung der anderen Seite waren an der Tagesordnung. Natürlich blieben die Argumente der Dietzhölztaler nicht ohne Widerspruch. Fünf Tage später erschien in der Zeitung der erste Leserbrief, in dem versucht wurde, sie zu entkräften. Er schloß mit den Sätzen:
„Jedenfalls ist eine Verbindung Dillenburg-Biedenkopf ein lang ersehntes Schmerzenkind. Wenn das Dietzhölzprojekt scheitert, so sollte es selbst im oberen Dietzhölztal nicht als eine Notwendigkeit betrachtet werden, daß auch das Scheldethal-Projekt einen Korb erhält; das ist nicht schwesterlich gedacht“.
Ein anderer Leserbrief, der wie damals üblich übrigens ohne Angaben zum Absender abgedruckt wurde; folgte am 12. März. Interessant sind für uns heute vor allem einige darin enthaltene Angaben zur Eisensteinförderung im Schelderwald:
„… Die Behauptung, die Gruben an dem alten Projekte seien zum Teil trotz der hohen Achsenfracht im Betrieb und die Gruben auf der Konkurrenzstrecke sämtlich still, beweist gar nichts und ist übertrieben. Der Einsender mag einmal von Nikolausstollen bis unterhalb zur Wasserscheide gehen. Die Straße ist ganz roth von dem vielen Eisenstein, welcher tagein tagaus per Achse hier gefahren wird. Es werden solche Lasten Eisenstein hier befördert, daß in verhältnismäßig kurzen Zwischenräumen die Straße mit neuer Decke versehen werden muß. Im vergangenen Jahr hat man sogar einen Teil der Straße gepflastert. Es werden von einer solchen Grube monatlich an 100 Doppewaggon auf Station Nikolausstollen gefahren. ..
Was die Rentabilität der Strecke von Straßebersbach nach Dillenburg anbetrifft, so ist dieselbe verschwindend klein im Verhältnis zur Scheldethalbahn. Es werden jährlich auf letztere Strecke durchschnittlich 25.000 Doppelwaggons thalabwärts befördert .Nach fachmännischen Urteil wird sich dieses Verfrachtungsquantum der Gruben nach Ausbau des neuen Projekts auf das Dreifache des bisherigen, also 75.000 Doppelwaggons belaufen“.
Wir wissen heute: Die Scheldebahn erhielt schließlich den Zuschlag, 1911 wurden die neuen Geleise an Hirzenhain vorbei durch das Gansbachtal bis nach Wallau verlegt. ..es wird Ernst! Nach den langen Ausführungen über die Ideen und Pläne, die nie verwirklicht wurden, die aber heute zeigen, welch hohe Erwartungen man damals an das neue Verkehrsmittel hegte, ein Verkehrsmittel, das es in Deutschland seit einem halben Jahrhundert erstmals ermöglichte, große Mengen an Gütern und natürlich auch an Menschen über lange Strecken zu transportieren, kommen wir nun endlich zu dem Vorhaben, das dann doch in die Tat umgesetzt wurde.
„Dillenburg, den 24. Mai 1886.
Nachdem die Königliche Eisenbahn=Direction ( rechtsrheinische) zu Köln von dem Herrn Minister der öffentliqhen Arbeiten beauftragt worden ist, die generellen Vorarbeiten für eine Eisenbahn untergeordneter Bedeutung von Dillenburg nach Straßebersbach=Neuhütte anfertigen zu lassen, hat die Königliche Regierung zu Wiesbaden im Auftrage des genannten Herrn Ministers in Gemäßheit des § 5 des Enteignungsgesetzes die Bekanntmachung der Gestattung der Vorarbeiten durch das Regierungs=Amtsblatt verfügt.
Indem ich hiervon die betheiligten Gemeinden Dillenburg, Frohnhausen, Wissenbach, Eibelshausen, Steinbrücken und Straßebersbach in kenntnis setze, bemerke ich, daß auf Grund dieser Verfügung die Grundbesitzer gesetzlich verpflichtet sind, die Vornahme der erforderlichen Vorarbeiten auf ihrem Grund und Boden gegen Vergütung des dadurch erwachsenden Schadens zu gestatten.
Von jeder Vorarbeit wird unter Bezeichnung der Zeit und der Stelle, wo sie stattfinden soll, mindestens zwei Tage zuvor den Herren Bürgermeistern der betreffenden Gemeindebezirke Kenntnis gegeben werden, welche davon die betheiligten Grundbesitzer speciell oder in ortsüblicher Weise generell zu benachrichtigen haben. Ich erwarte von den Herren Bürgermeistern, daß sie den mit der Vermessung betrauten Beamten, deren Namen ich demnächst mittheilen werde, in jeder Beziehung Schutz und Unterstützung angedeihen lassen werden“, mit diesen Sätzen verkündete am Samstag, dem 29. Mai 1886, Landrat Fromme den Lesern auf dem Titelblatt der „Zeitung für das Dillthai“ gleich mit der allerersten seiner amtlichen Bekanntmachungen, daß es nun ernst wurde. Wenige Tage später ergänzte der Landrat, daß die „Herren“
1 .Regierungs=Baumeister Geber,
2 .Feldmesser Müller,
3 .Zeichner Seher
mit der Ausführung der Vorarbeiten für die Sekundärbahn Dillenburg=Straßebersbach=Neuhütte beauftragt worden sind. Die Herren Bürgerm=ister der betreffenden Gemeinden werden angewiesen, dieselben in ihrer Thätigkeit nach Kräften zu unterstützen. Ich bemerke noch, daß außer den Gemarkungen Dillenburg, Frohnhausen, Wissenbach, Eibelshausen, Steinbrücken und Straßebersbach auch die Gemarkungen Manderbach und Eiershausen von den Vorarbeiten berührt werden“.
Am 19. November des gleichen Jahres fand abends um 20.00 Uhr in Dillenburg eine  „Bürgerausschuß=Sitzung“ statt, die die „Bewilligung eines Zuschusses zum Bau einer Eisenbahn durch das Dietzhölzthal“ als ersten punkt auf der Tagesordnung hatte.

Unsicherheiten

Unsicherheiten gab es immer noch. Das Projekt einer „Eisenbahn untergeordneter Bedeutung von Dillenburg nach Straßebersbach“ werde von der Staatsregierung „noch im Laufe dieser Session dem Landtage vorgelegt werden“, hieß es Ende Januar. Doch hoffnungsvoll stand weiter im Kreisblatt zu lesen:
„Da die betheiligten Gemeinden und Privaten bereits die von ihnen verlangten Leistungen unter Beihilfe des Kreises im vollen umfange übernommen haben, so erscheint der für die Entwickelung des Dietzhölzthales bedeutungsvolle Bahnbau gesichert, sofern, was zu hoffen steht, der Communallandtag den beantragten Zuschuß von 50.000 Mark bewilligt. Unter diesen Umständen können die Arbeiten vielleicht schon im nächsten Sommer in Angriff genommen werden“.
Unsicherheiten gab es abermals ein anderthalbes Jahr später, als am Ende des Sommers 1888 die Vorarbeiten an der Dietzhölzbahn vorübergehend eingestellt wurden.
„Aus dem Umstand, daß gleichzeitig die Arbeiter entlassen wurden, glaubten Viele schließen zu müssen, daß der Bahnbau einstweilen aufgeschoben sei. Dem ist nicht so … Die Arbeiten an dem Bahnbau werden in nicht allzulanger zeit wieder aufgenommen werden und ihren ungestörten Fortgang nehmen“, mit diesen Worten sollten die Zweifel der Anlieger zerstreut werden.
Berichte über das Arbeitsleben waren in dem damaligen Zeitungen die Ausnahme, und so können wir nur aus den ab Januar 1890 so häufig erscheinenden Verdingungsanzeigen über den Fortgang der Bauarbeiten Rückschlüsse ziehen.
„Die Abfuhr von Baugütern vom Bahnhof Dillenburg nach der Strecke Dillenburg=Straßebersbach soll für die Dauer des Baues dieser Linie vergeben werden“, wurde am 23. Januar von dem Königlichen Regierungs=Baumeister Grimm bekanntgemacht und wenige Tage später wurde die „Lieferung von 3.100 cbm Bruchsteinen für die Bauwerke der Strecke …im Ganzen oder in 4 Losen getrennt“ verlangt. Abermals eine Woche später wurden 262 Tausend Stück hartgebrannte Ziegelsteine zur Herstellung von Bauwerken benötigt, und am 15. Februar waren es 1000 cbm Mauersand, für die ein Lieferant gesucht wurde, und ebenso 324 Kilogramm Wasserkalk.
Am 6. März folgte der „Verding von gußeisernen Röhren“: 32.220 kg gußeiserne Muffenröhren von 500 und 300 mm lichter Weite sollten es sein. Zwei Tage später lud Dillenburgs Bürgermeister Schäfer die betroffenen Eigentümer „zum Beginn der Abschätzung des zum Bahnbau Dillenburg=Straßebersbach erforderlichen Geländes zum Zweck des Versuchs einer gütlichen Einigung“ ein. Am 10. des Monats, einem Montagmorgen um neun Uhr sollte die Abschätzung vom Bahnhof Dillenburg aus beginnen.
Anfang Mai wurden die Erd- und Mauerarbeiten vergeben:
„Die Ausführung der Erd= und Maurerarbeiten, ausschließlich der Materialien=Lieferung, zur Herstellung der 16 km langen Neubaustrecke Dillenburg=Straßebersbach, die Bewegung von 130 Tausend cbm Boden und die Herstellung von 2300 cbm Mauerwerk umfassend, soll
im Ganzen oder in 5 Lose getrennt, vergeben werden“. In Eibelshausen wurde Anfang Juli die „Eisenbahn=Direktion Köln (rrh)“ mit den Landbesitzern handelseinig:
„In der gestern Abend vorgenommenen 2. Verhandlung sind den hiesigen Grundbesitzern erfreulicherweise gerechtere Abschätzungen ihrer zum Eisenbahnbau abzugebenden Länderen vorgelegt und denn auch durchgängig angenommen worden. Die Quadratrute Wiesenland ist durchschnittlich zu 16 bis 18 M., die Quadratrute Ackerland mit 14 M. eingeschätzt, für die Quadratrute Kraut= und Gartenland sind 20 bis 30 M. festgesetzt worden. Die Abschätzung der Obstbäume bedarf noch einer gründlicheren Erwägung des Wertes der einzelnen Bäume. Bis zum 14. Juli sollen die Verhandlungen über den Grunderwerb mit sämtlichen Gemeinden abgechlossen sein. Die Leute erhalten vorerst eine Abschlagszahlung für die Hergabe des Landes, die völlige Auszahlung erfolgt nach der Schlußvermessung. 10 pCt. der an die Interessenten zu entrichtenden Summe bleiben einbehalten, werden jedoch verzinst. Die Vermessungskost der fünfmal verlegten Strecke belaufen sich auf etwa 50.000 M. Für den Grunderwerb haben der Kommunalverband, die Kreiskasse und die beiden Hüttenwerke 100.000 M. aufzubringen. Die Kosten des Baues sind auf 2 Millionen veranschlagt. Mitte Juli sollen die Arbeiten beginnen“.
Ende August errichtete die Eisenbahndirektion in Steinbrücken ein Baubüro für die Ausführung des Baues der Eisenbahnstrecke von Wissenbach nach Straßebersbach.
„Mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Sektions=Baumeisters ist der Königl. Regierungs=Baumeister Herr Rudow betraut, welchem das nötige technische und Büreau=Personal beigeordnet ist“.
Ob es mit dem Ende des Sommers langsamer voranging, oder ob die Unternehmer mit den vergebenen Arbeiten erst einmal auf Monate beschäftigt waren, wissen wir nicht – die nächste Anzeige finden wir erst wieder kurz nach der Jahreswende, am 17. Januar 1891.
„Die Anfertigung, Lieferung und Aufstellung von 2 eisernen Ueberbauten zu 2 Bauwerken der oben genannten Neubaustrecke, zusammen etwa 1300 kg Schmiedeeisen und 270 kg Gußeisen, soll unter Lieferung der Materialien vergeben werden“.
Ende Februar wurde wegen der „Verdingung von Arbeiten und Lieferungen zur Herstellung der  Bahnhofs = Hochbauten“ annonciert. Erd-, Maurer-, Zimmer-, Dachdecker- und Klempnerarbeiten der Hochbauten auf den Bahnhöfen Frohnhausen, Wissenbach, Eibelshausen und Straßebersbach wurden in vier Losen getrennt vergeben.
Steinbrücken sollte noch kein eigenes Stationsgebäude bekommen, was, wie wir noch sehen werden, Jahrzehnte später zu mancherlei Beschwerden führen und schließlich auch Anlaß für lustige Anektoden sein sollte.
Mitte April wurde abermals Wasserkalk angefordert, dieses Mal waren es 145.000 kg. „Die Lieferung von 16.000 cbm Kies oder Kleinschlag für die Oberbaubettung soll vergeben werden. Es werden auch Angebote auf kleinere Mengen, jedoch nicht unter 300 cbm, angenommen. Lieferzeit 1. Juli bis 1. Dez. ds. Js.“, annoncierte am 5. Mai Abteilungsbaumeister Geber. Am 4. Juli wurden die Tischler- und Schlosserarbeiten für die vier Bahnhöfe vergeben und am 25. August hieß es: „Die Herstellung des Oberbaues nebst Zubehör -Vorstrecken von etwa 17800 m Gleis, Einbauen von 16000 cbm Kies und Kleinschlag, u.s.w. – soll ungeteilt vergeben werden“.
Diese Anzeige wurde wie so manche andere dieses Bahnbauprojekts noch einmal abgedruckt, in der Folgeausgabe zwei Tage später (die „Zeitung für das Dillthal“ erschien damals nur am Dienstag, am Donnerstag und am Samstag). Am 17. September wurden die Glaser- und Anstreicherarbeiten für die Stationsgebäude vergeben. Am 19. November wurde wegen der Lieferung von 700 Schutzsteinen, 1350 Grenzsteinen und 161 Kilometersteinen annonciert, und in der nächsten Zeitungsausgabe teilte Dillenburgs Bürgermeister Schäfer im „amtlichen Teil“ auf der ersten Seite mit:
„Nachdem der Herr Regierungs=Präsident der Einführung des Arbeitszugsbetriebes auf der Bahnstrecke Dillenburg–Straßebersbach die landespoizeiliche Genehmigung erteilt hat, treten die in der Bahnordung für deutsche Eisenbahnen untergeordneter Bedeutung vom 12. Juni 1878 (Extra Beilage vom .12. Juni 1878 Nr. 29) bestimmten Sicherheitsmaßregeln in Kraft. Demgemäß wird das Publikum vor dem Betreten des Bahnkörpers, besonders aber vor dem Ueberschreiten der Uebergänge und Ueberfahrten, sobald dieselben durch Barrieren verschlossen sind, oder ein Zug sich nähert, gewarnt. Übertretungen dieses Verbotes werden streng geahndet .
Dillenburg, den 19. November 1891″.
Am 2. Februar 1892 erschien die letzte Anzeige: „Anlieferung und Aufbringen von 100 qm Bohlenbelag für die eisernen Brücken soll verdungen werden“.

Auf Auerhahnjagd

Am 23. April des Jahres (1892) wurde der Fahrplan bekannt gemacht, der „gültig vom 1. Mai ab“ sein sollte:
Von Dillenburg Von Straßebersbach
nach Straßebersbach nach Dillenburg
Dillenburg ab 7.40 1.23 7.10 ab 5.40 9.20 5.15
Frohnhausen ab 8.00 1.39 7.30 ab.5.57 9.33 5.32
Wissenbach ab 8.12 1.47 7.42 ab 6.12 9.44 5.47
Eibelshausen ab8.27 1.58 7.57 ab 6.24 9.52 5.59
Straßebersbach ab8.39 2.10 8.09 ab 6.39 10.07 6.14
Am Tage darauf traf Regierungspräsident von Trepper-Laski mit dem letzten Zuge zwecks Beiwohnung bei der landespolizeilichen Abnahme der Bahnstrecke Dillenburg- Straßebersbach in der Kreisstadt ein. Nach einem abendlichen Abstecher nach Biedenkopf kehrte er am nächsten Morgen in die Straßebersbacher Oberförsterei zurück. Was er hier tat, ließe heute die Jagdkollegen vor Neid erblassen und die Naturschützer auf die Barrikaden steigen: Er schoß einen der Auerhähne, die damals noch in den heimischen Wäldern lebten.

Die feierliche Eröffnung

Über die feierliche Eröffnung der Dietzhölzbahn berichtete die „Zeitung für das Dillthal“ ausführlich. Sie widmete dem Ereignis fast eine komplette Seite, in ihrer Ausgabe Nr. 52 vom 3. Mai 1892. Da der Bericht nicht nur interessante Fakten zur Eisenbahn enthält, sondern auch ein gutes Stimmungsbild über die damalige Zeit ist, sei er hier, versehen mit einigen Bemerkungen, vollständig widergegeben.
„Die ersten Vorarbeiten zu der Dietzhölzthalbahn wurden im Sommer 1886 ausgeführt. Auf ministerielle Anordnung sollte damals die Bahn an der Chausseeseite, unter möglichster Mitbenutzung der Chaussee, projektiert werden. Nachdem dies Projekt fertig gestellt war, protestirten mehrere Gemeinden gegen die Anlage dieser Bahn, welche mitten durch einige Dörfer (Frohnhausen, Wissenbach und Eibelshausen) hindurch gehen sollte“
eine Entscheidung, die aus heutiger Sicht zu bereuen ist, denn die Bautätigkeit in Frohnhausen und Wissenbach entwickelte sich im folgenden Jahrhundert immer mehr von der Bahn weg. Der Fußweg zu den Bahnhöfen wurde somit immer länger, und damit wurde die Benutzung des schienengebundenen Verkehrsmittels unattraktiver für die Bevölkerung – wer nicht ohnehin schon ein eigenes Fahrzeug hatte, für den war der Weg zur Bushaltestelle allemal kürzer.
„Infolge dessen wurde eine neue Bearbeitung der Linie auf der linken Bachseite angeordnet. Nach mehrfachen kleineren und größeren Abänderungen entstand sodann der Entwurf, welcher der Bauausführung zu Grunde gelegt worden ist. Die lange Verzögerung ist zum großen Theile dadurch mit herbeigeführt, daß die Regelung der Grunderwerbsangelegenheit eine schwierige und zeitraubende war .Mit der Bauausführ\mg wurde etwa am 1. August 1890 begonnen, so daß bis zur Betriebseröffnunq 1 3/4 Jahre zur Fertigstellung der Bahn mit allen Nebenanlagen (Empfangsgebäude, Wegeanlagen, Bachverlegungen usw.) erforderlich gewesen sind.
Die ganze Länge der Bahn beträgt 15,9 km (gerechnet von der Mitte des Empfangsgebäudes in Dillenburg bis zur Mitte des Empfangsgebäudes in Straßebersbach.) Die Einzelentfernungen betragen: von Dillenburg bis Frohnhausen 5,5 km, von Frohnhausen bis Wissenbach 2,5 km, von Wissenbach bis Eibelshausen 3,5 km, von Eibelshausen bis
Straßebersbach 4,4 km“. Dass Steinbrücken bei diesen Entfernungsangaben nicht erwähnt ist, ist kein Versäumnis
des damaligen Zeitungsreporters: Steinbrücken bekam seinen eigenen Haltepunkt erst etliche Jahre später. Die Kosten des Grunderwerbs (welche vom Kreise, den Gemeinden und sonstigen Interessenten aufzubringen sind) betrugen annähernd 160.000 M. Für die eigentliche Bauausführung hat das Preußische Abgeordnetenhaus s. Z. 1 100 000 Mark bewilligt, welche Summe annähernd ausreichen wird.
Die feierliche Einweihung der Bahn, zu welcher die Spitzen der Verwaltungs- und andere Behörden des Kreises und der beteiligten Gemeinden, die mit dem Bau der Balm betrauten Beamten, die an der Bahn hauptsächlich interessirten (Gewerken und einige andere Herren, im ganzen etwa 80 Personen, von dem Festkomite geladen waren, fand Freitag, den 29. April 1892 statt.
Um 111/2 Uhr vormittags führte der erste vollständige, mit Fähnchen und Guirlanden schön geschmückte Zug die Festteilnehmer vom Bahnhof Dillenburg aus in das Dietzhölztal , an sämtlichen Uebergangsstellen innerhalb des Stadtbezirks und aus den der Bahn zugekehrten Häusern her freudig begrüßt. Als der Zug am Friedhof über die Chaussee in das Dietzhölzthal einbog, mahnte langanhaltendes Läuten die Passanten und Fuhrwerke zur Achtung und Hut vor dem neuen funkensprühenden Dampfgespann, das künftighin die Posthornklänge aus dem stillen Thale verbannt und dasselbe den größeren Verkehre immer mehr zu erschließen berufen ist. Festlich und schön wie der erste Zug, waren die Bahnhöfe Frohnhausen, Wissenbach und hauptsächlich Eibelshausen und Straßebersbach geschmückt. Ueberall auf denselben hatten sich die Dorfbewohner, namentlich der weibliche Teil, die Kinder und die Schuljugend Kopf an Kopf versammelt und gaben ihrer Freude und ihren Staunen lauten und herzhaften Ausdruck. In Wissenbach sang ein Gesangverein und die Schuljugend , ebenso wie in Eibelshausen; die Eibelshäuser Kinder besonders trugen unter Leitung ihres Herrn Lehrers Becker einige vierstimmige Lieder sehr schön vor und halfen auch die Feier in Straßebersbach verschönern. Beim Einfahren in den Bahnhof Eibelshausen gab der dortige Kriegerverein Salven ab, während die freiwillige Feuerwehr in ihrer kleidsamen Uniform Spalier bildete. Beide Vereine fuhren sodann mit dem Festzuge mit nach Straßebersbach, der Endstation der neuen Bahnlinie.
Hier auf dem mit Flaggenmasten und Guirlanden geschmückten Bahnsteig, den außer den Festteilnehmern der größere Teil der Einwohner von Straßebersbach gefüllt hatten , während viele Hüttenarbeiter oberhalb des Abstiches dem Bahnhof gegenüber der Feier beiwohnten, vollzog Herr Pfarrer Grünschlaq von Bergebersbach den Weiheakt. Nachdem die Eibelshäuser Schulkinder unter Leitung ihres Lehrers drei Verse des Liedes „Danket dem Herrn“ recht schön vierstirrrnig vorgetragen hatten, sprach der Herr Pfarrer folgende Worte:
‚Hochgeehrte Herren, teure Festgenossen! Das Ereignis, dem der heutige Tag gilt, an dem dieser festliche Zug Sie hierher geführt, und da wir die Ehre haben, in den schumcken Räumen dieses Bahnhofes Sie zu empfangen, ist für uns Bewohner des Dietzhölzthales von der allergrößten Bedeutung. Was seit Jahrzehnten als Bedürfnis von der Bevölkerung dahier empfunden, was von ihr mit Hingabe und Ausdauer erstrebt worden, und zu dessen Zustandekommen Interessenten und Gemeinden, Kreis, Bezirk und Staat im friedlichen Verein sich die Hände gereicht, steht heute herrlich vollendet vor uns da, und dieser Tag ist dazu bestimmt, dem wohlgelungenen Werke die Weihe zu geben.
Wem aber soll nun an diesem für uns so bedeutungsvollen Tage der erste Ton erklingen, wem der erste Dank dargebracht, das erste Lob ausgesprochen werden? Als christliche und deutsche Männer antworten wir alle mit unserm berühmten vaterländischen Dichter Arndt:
‚Dem Gott, der groß und wunderbar.‘ Ja, ihm, der die Menschheit gesegnet und im Anfang zu ihr gesprochen hat: ‚Füllet die Erde und macht sie euch unterthan ‚, ihm, in dem wir leben, ‚werden und sind, von dem, durch den und zudem alle Dinge geworden, ihm, der den Verständigen ihre Weisheit giebt und die Hände zur Arbeit stärkt, der auch Segen und
Gedeihen zu diesem neuen vollendeten Bau gegeben, sei Ehre und Lob, Dank und Preis von Ewigkeit zu Ewigkeit! Zu dem Gott aber, der bis hierher geholfen, steht unser Vertrauen auch für die Zukunft. Möge er dies Werk, das durch ihn gelungen, für alle Zeit in seinen Schutz nehmen und vor dem Verderben bewahren! Möge er alle, die den Betrieb dieser Bahn leiten oder sonst Dienste dabei thun, in Herz, Haus und Beruf mit seiner Gnade krönen! Möge er alle Reisenden beschützen und ihren Ausgang und Eingang segnen! Möge er alle Werke und Unternehmungen, denen diese neue Verkehrslinie jetzt und fernerhin dienen wird, wachsen, blühen und gedeihen lassen! Möge er uns allen den Sinn verleihen, der, was seine Hand in diesem Werke uns Gutes gewährt, stets dankbar empfindet und nur zu seiner Ehre gebraucht, damit dem Bösen gewehrt, Gottes Reich aber gemehrt werde!
Diese unsere Wünsche aber lasset uns vor dem niederlegen, der allein sie in Erfüllung gehen lassen kann, indem wir beten:
Herr segne uns und behüte uns, Herr lasse dein Antlitz über uns leuchten und sei uns gnädig, Herr, erhebe dein Antlitz auf uns und gieb uns deinen Frieden! Amen.‘
An diese Rede reihte sich nochmaliger Gesang der Schulkinder und hierauf folgte im dekorierten Wartesaale des neuen Stationsgebäudes das Festessen. Der Ehrenplatz während desselben war dem zur Feier von Wiesbaden gekommenen Herrn Landesdirektor Sartorius zugewiesen. Herr Landrat Fromme von Dillenburg brachte den ersten Toast aus auf unseren Kaiser Wilhelm ll. Der Redner erwähnte, daß nunmehr ein Werk. herrlich vollendet sei, das die Bewohner des Dietzhölzthales schon lange ersehnt und erstrebt hätten.
Daß der Bahnbau in befriedigender Weise hätte fort- und durchgeführt werken können, das dankten wir dem Umstande, daß uns der Friede erhalten geblieben sei, trotzdem unsere Nachbarn in Ost und West, die Hand am Schwerte, denselben bedrohten und nur den günstigen Augenblick erspähen wollten, um über Deutschland herzufallen und es von seiner Höhe wieder in die frühere Zerrissenheit und Ohnmacht zurückschleudern, während
gleichzeitig im Innern unseres schönes Landes dunkle Mächte eifrig bemüht seien, den Bau des Reiches zu untergraben.“ -womit Sozialdemokraten und Gewerkschafter an diesem Tage gleichermaßen ihr Fett weg hatten, denn niemand anderes war mit den „dunklen Mächten“ gemeint, die da angeblich den Bau des Reiches untergruben. „Aber weder Neid unserer Nachbarn, noch die Wühlarbeit der Reichsfeinde im Innern würden ihr Ziel erreichen, wenn wir die edlen auf das Volkswohl und des Reiches Ehre gerichteten Bestrebungen unseres Kaisers unterstützten und fest entschlossen seien, in guten wie in bösen Zeiten treu zu Kaiser und Reich zu stehen. In diesem Sinne forderte der
Redner die Festversamrnlung auf, mit einzustimmen in den Ruf der Treue: Se. Majestät, der Kaiser und König, er lebe hoch!, welcher Aufforderung dreimal begeistert Folge gegeben wurde.
Nach kurzer Pause reihte sich hieran eine Rede des Herrn Apothekers R. Kroeck aus Straßebersbach. Derselbe betonte, daß lange Zeit die Bestrebungen der Dietzhölzthalhner auf diesen Bahnbau gerichtet gewesen seien, aber nicht nur auf die Strecke Dillenburg- Straßebersbach , sondern auch auf die Fortsetzung derselben nach dem Siegerlande zu, und erst wenn die westfälische Kohle mit den Eisensteinlagern, Schmelzöfen und Hüttenwerken an Dill und Lahn auf diesem Wege enger und kürzer verbunden wären, seien die Wünsche und Hoffnungen des Dietzhölzthales ganz erfüllt.
Aber auch jetzt schon sei man für das Errungene dankbar , sei dankbar allen, die zu dem Gelingen des Ganzen beigetragen hätten, vom obersten leitenden Beamten herab bis zum geringsten Arbeiter, und man wolle hoffen, daß durch den neuen Verkehrsweg Handel und Gewerbe und Industrie des Dietzhölzthales gehoben werden und immer mehr wachsen und gedeihen mögen, daß auf dem neuen Schienenstrang das Gute und Segensreiche aus der großen Welt auch seinen Weg immer mehr in das stille Thal finde, man wolle aber auch darüber wachen, daß den verderbenbringenden Ausflüssen aus dem Treiben großer Städte das Eindringen gewehrt werde, und daß das gesunde soziale Leben des Dietzhölzthales und namentlich das seit langer Zeit hier herrschende schöne Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer keinen Abbruch erleide. Die neue Bahn möge das Gute mehren, dem Bösen wehren und in diesem Sinne toaste er auf dieselbe: Die Bahn Dillenburg-Straßebersbach lebe hoch ! hoch ! hoch!
Brausendes Hoch und lauter Beifall folgten dieser Rede, und die Klänge der inzwischen mit Extrazug eingetroffenen Kapelle des Marburger Jägerbataillons mischten sich mächtig in den Jubel der Festgenossen. Während des Festessens, das in seiner ZusammensteIlung sowohl, wie in der Zubereitung der Speisen und Auswahl der Weine seinen Veranstaltern und Leitern alle Ehre machte, reihten sich nun noch Musikvorträge und gemeinsamer Gesang von teilweise eigens zu dem Zwecke seitens eines der anwesenden Herren gedichteten Liedern aneinander, und nur zu schnell flohen den fröhlich F,eiernden die Stunden dahin, bis um 5 1/4 Uhr der Festzug den größten Theil der Festteilnehmer wieder heimführte. Ein späterer Zug brachte gegen 9 Uhr noch die Musik und eine Anzahl Festgenossen nach Dillenburg zurück, welche im Gasthause „zum Hirsch“ noch eine gemütliche kleine Nachfeier veranstalteten.
Die Eröffnung der Bahnlinie für den größeren Verkehr erfolgte am Sonntag den 1. Mai, und trotz des wenig linden und gar nicht einladenden Mailüfterls waren doch die Sonntagszüge recht gut besetzt. Daß die für die neue Strecke eigens gebaute Lokomotive an diesem Tage eine kleine Havarie erlitt, so daß der Zug in Frohnhausen abends mit einer Rangiermaschine abgeholt werden mußte, und daß der letzte Postwagen, welcher am Sonntag Abend festlich geschmückt in Dillenburg eintraf, infolge des Eifers des Postillons, der es der Bahn vorthun wollte, nahezu zu Schaden kam, das sind kleine, teils durch die Freude über das neue Verkehrsmittel, vielleicht auch durch das geheime Weh über die Abdankung des alten liebgewordenen Postwagens entschuldbare Vorkommnisse, die nicht ins Gewicht fallen
angesichts des glücklich zu Ende geführten großen Unternehmens, das entsprechend unserm Jahrhundert des Dampfes und der Elektrizität wieder ein Stück idyllischen Verkehrslebens aus früherer Zeit verdrängt hat und in einen stillen Thal statt der Posthornklänge die Dampfpfeife und das Rollen der Eisenbahnräder wiederhallen und die Fernsprechdrähte sich ausspannen läßt.“ *)
Zwei Sonderstempel der Deutschen Bundespost, die 1982 erschienen und einen Bezug zum vorliegenden Werk haben. Anläßlich einer Ausstellung des Dillenburger „Briefmarkensammlervereins für den Dillkreis“ erschien der mit der Ansicht des Dillenburger Bahnhofs um 1890 wenige Tage später war in Eibelshausen Weihnachtsmarkt. Weil dieses
Dorf 200 Jahre alte Marktrechte hatte, erschien dieser Stempel, der den „Turm des deutschen Bergmannes“ auf der Eschenburg zum Motiv hatte.
* Einige Anmerkungen zu der Schreibweise: Vor der nach der Jahrhundertwende erfolgten Rechtschreibreform wurden manche Wörter anders geschrieben als heute. Einige der in diesem Text vorkommenden Wörter seien beispielhaft genannt: Thal, giebt, interessirt. Statt eines „ü“ wurde damals „ue“ geschrieben.
An dieser Stelle auch noch eine Begriffserklärung: Die „Gewerken“ hatten nichts mit unseren heutigen Gewerkschaften zu tun; so nannte man die Anteilseigner von Gruben bzw .Hütte