Oberhalb Rittershausen, am Abzweig zum Forsthaus Dietzhölze, (auf der Karte Pkt. 21) stand ein alter Wegweiser, mit dem ich im vergangenen Jahren oft Zwiesprache hielt. Er war ein besonderer Wegweiser,  nicht wie die anderen, ein lieber Philosoph, der sich über das Leben und besonders über die Straße seine Gedanken machte und nicht erwarten konnte, bis ich zu ihm kam und mit ihm plauderte. Er sah stattlich aus, hatte drei Arme, einen sechskantigen Leib,  war schwarz und weiß angestrichen,  ein echter preußischer Wegweiser. Darüber war er stolz und seine Arme zeigten nach drei Richtungen. Die eine Straße wurde nach dem Forsthaus Dietzhölze gebaut, damit der Herzog von Nassau in die Wälder daselbst zur Auerhahnbalz fahren konnte. Ja, ja, das mußte so sein. Der andere Arm zeigte nach Siegen und der dritte nach Dillenburg.  
Den Fischbachweg beachtete er nicht, weil die mit glatten Kieselsteinen gepflasterte Eisenstraße“ nicht mehr wie in früherer Zeit mit Ochsenkarren, die den Eisenstein aus dem Siegerland nach den Hütten Ewersbach und Eibelshausen brachten, befahren wurde. Sinnend stand er dort, der preußische Wegweiser und sah selten jemand, bis ums Jahr 1880 die Butterleute“ regelmäßig einmal in der Woche kamen, Männer und Frauen aus Steinperf, Ober- und Niedereisenhausen die Butter nach Siegen trugen. Welche Olympiasieger können ihre Leistungen mit denen der Butterleute und besonders der Butterfrauen messen.  Es ist verbürgt, daß eine Frau, ihr Name bleibe verschwiegen, 80 Pfund Butter auf dem Kopfe von Steinperf nach Siegen – ungefähr 50 km – trug und unterwegs noch strickte. Unmöglich sagt ihr? Ich, der preußische Wegweiser lüge nicht; ich habe die Frau belauscht, und mir hat sie es gesagt. Hier ruhten sie aus, und dann ging es Schritt für Schritt die Haincher Höhe hinauf bis zur Bettelbuche, wo die Zigeuner ihr Standquartier hatten und die feurigen und klagenden Weisen ihrer Geigen tief in den Wäldern sangen und klangen. Nach gemessener Rast wurden die Körbe auf den Kopf und die Kiepen auf den Rücken gehoben und weiter ging es den Butterweg  hinauf und die Sangetenne hinunter nach Hainchen. Heute schlagen Sträucher und tief hängende Fichtenreiser über dem Butterweg zusammen und dicke Moospolster und stolze Königsfarne verbergen die tiefen Fußeindrücke der schwertragenden  Männer und Frauen. Dann wurden diese Menschen müde. Der Wegweiser hörte und sah, wie sie unter der Schwere der Last stöhnten wie die Haare grau, der Rücken krumm, die Beine schwach und die Brust zu eng wurde. Der alte „Jend“ und „Aders Minche“ und wie sie alle hießen, fuhren nun mit kleinen Planwagen die Butter nach Siegen. Unter dem Wagenrumpf schaukelte die Lampe, und ihr über den Lampenschirm gespanntes Drahtnetz malte nachts um 2 Uhr, wenn die Pferde von selbst bei der Wirtschaft Aurand hielten, allerlei Kringeln und Figuren an die Decken und Wände der Schlafzimmer und schlaftrunkene Kinder sahen halb ängstlich halb staunend nach diesem geisterhaften vorbeihuschenden Balken, Dreiecken und Vierecken. Hatten die Pferde ihr Heu gefressen, die Butterleute ihren wärmenden Kaffee getrunken und die leeren Eierschalen ineinander gesteckt, so wickelten sie sich in ihre Decken und schliefen, während die treuen Tiere ihren Weg allein fanden und am Wegweiser kopfnickend vorbeifuhren um bei Tagesgrauen in der Industriestadt zu sein. Große Augen machte der Wegweiser, wenn am Tage der Herr Kommerzienrat in seinem Havelock mit der Kutsche – auf dem Kutschbock stolz der weitbekannte Kutscher – in die Dietzhölze spazierenfuhr und der Herr Geheime Sanitätsrat, dessen Reich die Dörfer Ober- und Niederhörlen, Ober- und Niederdieten, Achenbach, Roth, Simmersbach, Eiershausen, Fischelbach, Mandeln, Eibelshausen, Steinbrücken, Ewersbach, Rittershausen, Weidelbach und Offdilln umfaßte, auch noch nach Hainchen fuhr. Diesem nimmermüden, hilfsbereiten, hochgeehrten Helfer kranker Menschen sah der Wegweiser stets ehrfurchtsvoll nach.  
Vorbei war die gute alte Zeit. Am 1. Samstagnachmittag der Jahrhundertwende kam pustend
und fauchend ein komischer Wagen ohne Pferde, halb Kutsche, halb Feuerspritze, und hielt am Wegweiser, weil ihm die Luft ausging. Der Herr Apotheker, fuhr als erster mit einem „Auto“, wie es heute noch als ältestes Modell bei Opel in Rüsselsheim zu sehen ist, in der Richtung des Armes, auf dem nach „Siegen“ stand.  Das hielt er alle Samstage so. Und alle Samstage konnte dieser neumodische Wagen – trotz aller Anstrengung – nicht allein die Haincher Höhe erklimmen. Die Schulbuben wußten das, der Wegweiser hatte es ihnen erzählt. Er hielt seine Arme ganz still, wenn sie ihre daran hingen und des Herrn Apothekers Auto bis auf den Kamm der Höhe drückten, um dann – nicht eine Mark -sondern 10 Groschen Lohn zu empfangen. Die Haincher Jungen bekamen ebenso 10 Groschen, wenn sie das Werk am Sonntagabend in der umgekehrten Richtung vollbrachten. Aber dann kamen sie, einer nach dem anderen, die schnittigen Wagen und jagten mit soviel Sachen über die Höhe. Wenn sie den stummen Wächter sahen, schalteten sie, und die Motoren heulten auf, und ihr Gesang war ein anderer als der des asthmatischen Motors des Herrn Apothekers von dazumal. Vorbei zogen Burschen und Mädchen und sangen: Wozu ist die Straße da, zum Marschieren. Schon brauste ein schwerer Laster heran. Die Jungen flüchteten nach links und ballten die Fäuste. Die Mädchen sprangen jauchzend nach rechts, suchten hinter dem Wegweiser Schutz und hielten Röcke und Unterröcke zusammen. Aber umsonst ! Die Pfütze am Fuße des Philosophen teilte ihren Segen aus nach rechts und nach links, jedem sein Teil. Aus dem Wagen schauten lachend die Fahrer. Sie lachten nicht schäbig, sie lachten nicht schadenfroh. O nein ! Die Fahrer sind nette Leute! Wozu ist die Straße, zum Marschieren?  Nein, nein, das war einmal, damals, als der preußische Wegweiser noch an den vier Kreuzungen stand und den Fußgängern nachsah. Seine Arme erlahmten, und zuerst sank einer, dann der zweite zu Boden. Und die runde Mütze rutschte langsam und wehmütig zur Erde nieder, bis sich auch der Leib besann, daß er eigentlich in diese Zeit nicht mehr paßte. In einer dunklen Nacht, als es niemand sah, neigte er sich mehr und mehr, fiel zusammen, starb und erzählt und philosophiert nicht mehr, er der alte Wegweiser von Rittershausen.